Ossip Mandelstam – Die Gesamtausgabe
„Diese Ausgabe bietet einfach alles, was ein Leserherz begehrt.“
Andreas Isenschmid, Tages-Anzeiger
Ossip Mandelstam
Das Gesamtwerk in Kassette
Aus dem Russischen übertragen und
herausgegeben von Ralph Dutli.
10 Bände im Schmuckschuber, mit Supplement (s.u.).
Ammann Verlag, Zürich
Jetzt erhältlich beim S. Fischer Verlag, Frankfurt.
„Diese Ausgabe bietet einfach alles, was ein Leserherz begehrt: elegante Buchausstattung und exzellente Nachworte, ausgiebige Anmerkungen, sorgfältige Chronologien und verläßliche Register; natürlich sind die Gedichte zweisprachig abgedruckt; und die Übersetzungen gehören nach Einfallsreichtum und Formbewußtsein zu den verborgenen Glanzleistungen.“
Andreas Isenschmid, Tages-Anzeiger
Mandelstam lacht
„Wenn die Dinge zu sprechen und zu tanzen anfangen“
von Hanns-Josef Ortheil
ZEIT-Artikel zum Erscheinen des letzten
Bandes der Gesamtausgabe
Pressestimmen
„Das hat man sich Jahrzehnte lang gewünscht: eine richtige Mandelstam-Ausgabe. Die nun abgeschlossene zehnbändige Ausgabe im Ammann-Verlag stellt eine ganz unvergleichliche Leistung dar.“
Alexander von Bormann, Tagesspiegel
„... daß der Gesang des ‚modernen Orpheus’ (so Joseph Brodsky) auch unsere westlichen Gestade erreicht hat, verdanken wir Ralph Dutlis grandioser Mandelstam-Ausgabe.“
Michael Braun, Frankfurter Rundschau
„... mit Meisterschaft ins Deutsche übertragen. Beeindruckend ist vor allem die Originaltreue der Übersetzungen, die die verschiedenen Sinnpotenzen von Mandelstams Texten auch dem deutschen Leser zugänglich macht.“
Ulrich M. Schmid, Neue Zürcher Zeitung
Dichter über Mandelstam
„Ein Sonderling? Natürlich ein Sonderling. Die tragische Figur eines ganz seltenen Dichters, der auch in den Jahren der Woronescher Verbannung Gedichte von unsagbarer Schönheit und Kraft schrieb.“
Anna Achmatowa
„Ossip Mandelstam – ein herrlicher Dichter, der größte von allen, die in Rußland unter der Sowjetherrschaft zu überleben versuchten.“
Vladimir Nabokov
„Mandelstamm: selten noch habe ich, wie mit seiner Dichtung, das Gefühl gehabt, einen Weg zu gehen – einen Weg zu gehen an der Seite des Unwiderlegbaren und Wahren, und dies dank ihm.“
Paul Celan
„Mandelstam hat uns eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt...“
Pier Paolo Pasolini
„Die Welt muß diese nervöse, hohe, reine Stimme erst noch hören, eine Stimme, in der Liebe, Schrecken, Erinnerung, Kultur, Glaube mitschwingen, zitternd vielleicht wie ein brennendes Streichholz bei starkem Wind und doch gänzlich unlöschbar. Eine Stimme, die bleibt, auch wenn ihr Besitzer nicht mehr ist. Er war, ist man versucht zu sagen, ein moderner Orpheus: er wurde zur Hölle geschickt und kehrte nicht zurück...“
Joseph Brodsky
„Der großartigste Lobgesang auf die Herrschaft, die dichterische Imagination ausübt. Wie immer schreibt Mandelstam jubelnd und überzeugend. Mandelstam bringt Dante aus dem Pantheon zurück zum Gaumen.“
Seamus Heaney
„Mandelstams Verse haben die Qualität der klugen Wiegenlieder, sie trösten, indem sie das Denken beflügeln. Die Leichtigkeit inmitten der historischen Katastrophe, diese an Wahnsinn grenzende Musikalität, während der Weltgeist lärmt und die revolutionäre Phrase alles verschlingt: kein anderer hat einen so komplexen Ausdruck dafür gefunden. (...) Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut. Ich hoffe, daß die Zukunft Mandelstam gehört...“
Durs Grünbein
Supplement
Überraschung als poetisches Prinzip,
Kontinuität als editorische Losung
Die Einzelbände der zehnteiligen Ossip-Mandelstam-Gesamtausgabe des Ammann Verlages erschienen in den Jahren 1985 bis 2000. Aus Anlaß der 3. Auflage der ersten beiden Bände Das Rauschen der Zeit (Gesammelte „autobiographische“ Prosa der 20er Jahre) und Mitternacht in Moskau (Die Moskauer Hefte. Gedichte 1930–1934) im Herbst 2004 ist es angebracht, einen Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Editionsprojekts zu geben, Fragen von Lesern zu beantworten und die Neuauflage von Mitternacht in Moskau um einige Notizen zu ergänzen.
Als der Verleger Egon Ammann und der Herausgeber Ralph Dutli 1984 die Gesamtausgabe der Lyrik, Prosa, Essays und Briefe Ossip Mandelstams vereinbarten, begann ein editorisches Abenteuer, das gewiß nicht ohne Hindernisse und materielle Engpässe verlief, aber schließlich belohnt wurde vom Glück, das Projekt vollendet zu sehen. Es bedeutete die Entdeckung einer eigenständigen und zugleich aus vielen Quellen sich nährenden poetischen Welt, der Welt des russisch-jüdischen Dichters Ossip Mandelstam (1891–1938). Und darüber hinaus: die Entdeckung eines Kontinents der klassischen Moderne.
Verleger und Herausgeber waren sich einig, daß auch die Erscheinensweise der Bände ein Abenteuer voller Überraschungen für den Leser werden sollte. Auf keinen Fall sollte sich ein konventionelles, nach literarischen Genres geordnetes Editionsprogramm abspulen: 1. die Gedichte; 2. die Prosa; 3. die Essays; 4. die Briefe. Die Genres sollten abwechseln, die Schaffensperioden in zeitlichen Sprüngen nach vorn und zurück, also nicht-chronologisch, in einer Zickzack- oder Spiralbewegung sich erschließen. Vorgeschwebt haben uns auch zunächst eigenständig erscheinende Mosaik-Teile, deren Zusammenwirken erst zum Schluß den Blick auf das Ganze von Mandelstams Werk freigeben sollte.
Das Motiv der Überraschung des Lesers entsprach dem Mandelstamschen Konzept des „reinen Staunens“, dem er wesentliche dichterische Qualitäten zuschrieb. In seinem Manifest-Essay Der Morgen des Akmeismus von 1913 heißt es:
„Die Fähigkeit zu staunen ist die Haupttugend des Dichters. Aber wie soll man denn nicht ins Staunen geraten über dieses fruchtbarste aller Prinzipien – das Prinzip der Identität. Wer durchdrungen ist von ehrfürchtigem Staunen über dieses Prinzip, der ist zweifellos ein Dichter. So erhält die Poesie, wenn sie die Souveränität des Identitätsprinzips anerkennt, ohne Bedingungen und Einschränkungen alles Seiende als Lehnsbesitz auf Lebenszeit. Die Logik ist das Reich des Unerwarteten. Logisch denken heißt: unablässig staunen“ (im Band: Über den Gesprächspartner, Gesammelte Essays I: 1913–1924, S. 21f.).
Das „Reich des Unerwarteten“ und eine scheinbar paradoxe, aber organische, in sich schlüssige Logik sollten auch dem Leser als „Lehnsbesitz auf Lebenszeit“, in Form einer anwachsenden, sich erweiternden und vertiefenden Edition zufallen. Die Überraschung als poetisches Prinzip eignete sowohl dem Werk als auch der Person Mandelstams. In Lidija Ginsburgs Tagebüchern ist Anna Achmatowas respekt- und liebevoll ironischer Ausspruch überliefert: „Ossip ist ein Schrank voller Überraschungen.“
Daß eine zunächst nicht-chronologische, nicht voraussehbar nach Genres geordnete Editionsweise einen mitdenkenden, anspruchsvollen Leser voraussetzt, versteht sich. In einem seiner ersten Essays, Über den Gesprächspartner von 1913, sprach Mandelstam von einem idealen Leser, vom „Finder der Flaschenpost“ und „providentiellen Gesprächspartner“: „Der Brief in der Flasche ist an denjenigen adressiert, der sie findet. Ich habe sie gefunden. Dies bedeutet, daß ich auch der heimliche Adressat bin“ (im Band: Über den Gesprächspartner, S. 9).
Mandelstam war bewußt Dichter und Adressat, Flaschenpost-Autor und Flaschenpost-Finder, das heißt Leser. Vom mitwirkenden Leser aber hatte er eine hohe Vorstellung. Im Essay Eine Armee von Dichtern von 1923 hielt er fest: „... daß der Titel eines Lesers nicht weniger achtbar ist als der Titel des Dichters“ (im Band: Über den Gesprächspartner, S. 225).
Hier sind zunächst die Etappen dieser Reise durch Mandelstams Werk in der chronologischen Reihenfolge des Erscheinens der Bände:
- 1985: Das Rauschen der Zeit. Gesammelte „autobiographische“ Prosa der 20er Jahre
- 1986: Mitternacht in Moskau. Die Moskauer Hefte. Gedichte 1930–1934
- 1988: Der Stein. Frühe Gedichte 1908–1915
- 1991: - Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I: 1913–1924
- Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II 1925–1935 - 1993: Tristia. Gedichte 1916–1925
- 1994: Armenien, Armenien! Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930–1933
- 1996: Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937
- 1999: Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Gesammelte Briefe 1907–1938
- 2000: Die beiden Trams. Kinder- und Scherzgedichte, Epigramme auf Zeitgenossen 1911–1937
- 2001: Das Gesamtwerk in zehn Bänden (im Schmuckschuber)
Aus Rechtsgründen konnten die Bände zu Beginn des Projekts nicht numeriert werden, weil ein Teil der Texte nicht frei war und noch keine vorauswirkende Abdruckgenehmigung vorlag: 1983 waren in der „Bibliothek Suhrkamp“ der Prosaband Die Reise nach Armenien, 1984 der Gedichtband Schwarzerde (63 Gedichte aus den Woronescher Heften) in Ralph Dutlis Übertragung erschienen. Zumindest die Rechte an den Übertragungen der Woronescher Gedichte sind inzwischen vollumfänglich beim Ammann Verlag, für den Armenien-Band erfolgte eine Abdruckgenehmigung für Die Reise nach Armenien durch den Suhrkamp Verlag.
Einige Leser und Besitzer der Gesamtausgabe, aber auch Bibliotheken, fragten uns an, wie die Ausgabe in unseren Augen gegliedert sei. Heute, nach Abschluß des Editionsprojekts, läßt sich folgende Gliederung nach literarischen Genres und nach der Chronologie der Entstehungsdaten der Werke aufstellen, die sich symmetrisch in fünf Gedichtbände und fünf Prosabände teilt:
- Band 1: Der Stein. Frühe Gedichte 1908–1915
- Band 2: Tristia. Gedichte 1916–1925
- Band 3: Mitternacht in Moskau. Die Moskauer Hefte. Gedichte 1930–1934
- Band 4: Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937
- Band 5: Die beiden Trams. Kinder- und Scherzgedichte, Epigramme auf Zeitgenossen 1911–1937
- Band 6: Das Rauschen der Zeit. Gesammelte „autobiographische“ Prosa der 20er Jahre
- Band 7: Armenien, Armenien! Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930–1933
- Band 8: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I: 1913–1924
- Band 9: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II: 1925–1935
- Band 10: Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Gesammelte Briefe 1907–1938
Nun scheint das Dezimalsystem für eine Ordnung der Bände uns doch noch eingeholt zu haben, das Dezimalsystem, das aber so künstlich nicht sein kann, weil es einen organischen Ursprung hat, den zehn Fingern zweier Hände sich verdankt. Zwei ganze Hände sollen in der zehnbändigen, fünf Gedicht- und fünf Prosabände umfassenden Mandelstam-Gesamtausgabe sich spiegeln dürfen, als magische Präsenz, als organisches Instrument poetischer Beschwörung, als Sinnbild des freundschaftlichen Grußes, der Hand-Reichung.
Paul Celan schrieb einmal: „Nur wahre Hände schreiben wahre Gedichte. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht.“ Und er fährt fort: „Gedichte, das sind auch Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen. Schicksal mitführende Geschenke“ (Brief an Hans Bender, 18. Mai 1960). Als „Schicksal mitführende Geschenke“ verstanden sich in aller Bescheidenheit auch die Bände der Mandelstam-Ausgabe.
Im Herbst 2003 erschien als Schlußstück des Mandelstam-Projekts im Ammann Verlag die international erste, umfassende Werkbiographie des russischen Dichters: Ralph Dutli, Mandelstam – Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Nun war das Mosaik von Mandelstams Werk und Lebensweg, sein Lebens-Werk also, noch einmal einem Überblick, einer Erzählung, einer Deutung ausgesetzt. Viele gute Besprechungen und Leserzuschriften belegten, daß die „Flaschenpost“ angekommen war. Dafür sind wir dankbar.
Ralph Dutli, im Juli 2004
Supplement als PDF-Dokument
Notiz zur dritten Auflage (2004) des Bandes
Mitternacht in Moskau
Die Moskauer Hefte.
Gedichte 1930–1934
Als die Notizen für den 1986 erstmals erschienenen Mandelstam-Band Mitternacht in Moskau geschrieben wurden, war die Sowjetunion noch nicht in der Ära von Glasnost und Perestrojka angekommen. Die Kreml-Greise Andropow und Tschernenko waren noch an der Macht und starben rasch einander nach. Wir konnten damals schreiben: „Rund die Hälfte der hier versammelten Gedichte sind in der Sowjetunion noch immer unveröffentlicht“.
Dann fand eine Phase historischer Beschleunigung statt. Als Michail Gorbatschow im März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde, konnte noch niemand ahnen, daß dieser Wechsel tiefgreifende Veränderungen für die russische Literatur bedeuten würde. Eine Perestrojka-Literatur entstand, Appelle zu Aufklärung und Vergangenheitsbewältigung. Doch die neue Literatur war nicht nur der verspäteten Entstalinisierung verpflichtet. Im Zuge der Glasnost-Politik wurde lange Verfemtes und Verbotenes rehabilitiert. Die Literatur des „Silbernen Zeitalters“, der russischen Avantgardisten und der Exilanten kehrte jetzt triumphal zurück. Joseph Brodskys Diktum, daß Schriftsteller immer zurückkehren, wenn nicht selber, dann auf dem Papier, bewahrheitete sich, und selbst der Teufel Voland aus Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita schien nun mit seiner Behauptung gerechtfertigt: „Manuskripte brennen nicht“. Die russische Literatur trat ihre Wiedervereinigung an.
Als einer der letzten kam auch der wegen eines Anti-Stalin-Gedichtes verfolgte und 1938 in einem Transitlager des Gulag bei Wladiwostok umgekommene Ossip Mandelstam in der Spätphase von Gorbatschows Glasnost-Politik zu einer erstmals unzensierten zweibändigen Ausgabe (herausgegeben von P. Nerler, mit einem Vorwort von S. Averincev, Verlag „Chudožestvennaja literatura“, Moskau 1990). Zu seinem 100. Geburtstag am 15. Januar 1991 schien Mandelstam nach Rußland zurückgekehrt zu sein. Daß es keine einfache und unangefochtene Rückkehr war, ist bezeichnend für den „Sonderling“ Ossip Mandelstam: Die Geschichte der Rettung des Archivs, der Verbreitung der Werke im Untergrund des Samisdat, der späten Rückkehr und der endlich erfolgenden Veröffentlichung wird geschildert in den letzten beiden Kapiteln meiner Mandelstam-Biographie Meine Zeit, mein Tier (2003): Es sind die Kapitel 24 („Nadeschda macht sich unsichtbar“) und 25 („Rückkehr aus dem Untergrund“).
Im folgenden finden sich einige zusätzliche Notizen zur Neuauflage von Mitternacht in Moskau (Die Moskauer Hefte. Gedichte 1930–1934). Denn die Überraschung als poetisches Prinzip sollte mit der Kontinuität als editorischer Losung verknüpft werden. Heute befinden wir uns in einer anderen Editionslage als 1984 zu Beginn des Mandelstam-Projekts. Nach der Auflösung der Sowjetunion (in der Folge des mißglückten August-Putsches 1991) erschienen mehrere, keiner Zensur mehr unterworfene Ausgaben:
- die vierbändige Edition von P. Nerler, A. Nikitaev, S. Vasilenko, Ju. Frejdin (Verlag „Art-Business-Center“, Moskau 1993–1997);
- die einbändige, vollständige Gedichtausgabe von A. Mec, Vorwort von M. Gasparov (Verlag „Akademiceskij Proekt“, Reihe „Novaja Biblioteka Poeta“, Sankt Petersburg 1995);
- eine umfassende textkritische Mandelstam-Edition unter der Leitung von M. Gasparov ist in Vorbereitung.
Aber auch die Funde von V. Šentalinskij in den KGB-Archiven (erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift „Ogonëk“, 1991, Nr. 1; in Buchform russisch 1995, deutsch 1996) förderten in einigen Fällen neue, von den in Nadeschda Mandelstams Gedächtnis verwahrten Gedichtfassungen abweichende Versionen zutage.
S. 9–31, 35–41, 75, 85–89, 93–97: Die Gedichte des Armenien-Zyklus sowie Gedichte aus dessen Umkreis, v. a. Kanzone und Der Kutscher, aber auch die Fragmente aus vernichteten Gedichten, I–V wurden – als zum erweiterten „Armenien-Komplex“ gehörende Texte – auch in den 1994 erschienenen Mandelstam-Band Armenien, Armenien! (Prosa, Notizbuch, Gedichte 1930–1933) aufgenommen und dort im Lichte neuerer Studien und Funde in biographischer, politischer und poetologischer Hinsicht eingehender kommentiert (dort auf S. 185–196).
S. 69: Das ironische bis sarkastische Trinklied ist eine kleine „Hymne auf Europa“. Die italienische und die französische Weinsorte am Schluß sind Sinnbilder für die westeuropäische Kultur insgesamt. Dazu: Ralph Dutli, Ein Fest mit Mandelstam. Über Kaviar, Brot und Poesie. Ein Essay zum 100. Geburtstag, Ammann Verlag 1991, S. 53–57, und R. D., Europas zarte Hände. Essays über Ossip Mandelstam, Ammann Verlag 1995, S. 127–130.
S. 83: Ein von dem spätmittelalterlichen Poeten und Vagabunden François Villon (1431–1463?) inspiriertes Manifest der Aufsässigkeit, der Widerspenstigkeit, der Vitalität. Dazu der Essay „Gruß an den Friseur“ in: R. D., Europas zarte Hände, S. 81–100.
S. 139–141: Das Gedicht „An die deutsche Sprache“ führt, als Brückenschlag zwischen den Zeiten und Sprachen, ins Jenseits der Dichter und nach Frankfurt, wo im jüdischen Ghetto einst vermutlich Mandelstams Vorfahren lebten. Es träumt eine Begegnung von jüdischer Mystik mit dem deutschen 18. Jahrhundert der Aufklärung, eine Hochzeit von Kabbala und Ratio. In der 7. Strophe („Die fremde Sprache wird mir einst zur Hülle, / Und lang bevor ich’s wagte: das Geborensein, / Da war ich Letter, war ich Traubenzeilen-Fülle, / Ich war das Buch, das euch im Schlaf erscheint“) gemahnt es an die Thora, die für die Juden Vor-Existenz ist, die der Wirklichkeit vorausgehende Schrift. Die „Traubenzeile“ beschwört die Traube, die die Kundschafter aus dem Gelobten Land zurückbrachten (Numeri, IV. Buch Mose, 13) als Symbol der Verheißung und künftiges Sinnbild des Volkes Israel (dazu: R. D., Ein Fest mit Mandelstam, S. 75–79). Das Gedicht ist aber auch eine versteckte Hommage an Mandelstams Mutter und seinen Vater: Erinnerung an Emilij-Chazkel Mandelstams Begeisterung für die deutschen Dichter und an das Haskala-Judentum der Familie seiner Mutter (dazu: R. D., Mandelstam – Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie, S. 382–384). Die Quelle des zweifachen rätselhaften Anrufs „Gott-Nachtigall“ (Verse 31 und 33) – „Nachtigall“ erscheint im russischen Gedicht als deutsches Wort, kyrillisch geschrieben – wurde entschlüsselt von Omry Ronen (in „Literaturnoe Obozrenie“ 1991, Nr. 1, S. 17): Es ist Heinrich Heines Gedicht „Im Anfang war die Nachtigall“, das in der Anfangszeile das Johannes-Evangelium anklingen läßt („Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“) und die Selbstopferung der Nachtigall für die Vögel des Waldes beschwört („Sie biß sich in die Brust, da floß / Ihr rotes Blut, und aus dem Blut / Ein schöner Rosenbaum entsproß; / Dem singt sie ihre Liebesglut.// Uns Vögel all in diesem Wald / Versöhnt das Blut aus jener Wund; / Doch wenn das Rosenlied verhallt / Geht auch der ganze Wald zugrund“). Die russischen Wörter für „Nachtigall“ (solovej) und „Wort“ (slovo) werden bei Mandelstam assoziativ verknüpft, gehuldigt wird dem „Gott des Wortes“, der in der russischen Sprache lautlich in die Nähe der Nachtigall rückt. Mandelstams Gedicht „An die deutsche Sprache“ ist nicht zuletzt ein Gruß an Heinrich Heine, der sich ebenfalls aus dem Element der eigenen (deutschen) Sprache in die (französische) Fremdsprache aufmachte. Die Poesie vereint Ewald Christian von Kleist (1715–1759); „der deutsche Offizier“ in Vers 10, Dichter und Soldat, Freund Lessings, fiel im Siebenjährigen Krieg in der Schlacht gegen die Russen bei Kunersdorf), Heinrich Heine (1797–1856) und Ossip Mandelstam zu einer Dichtergestalt. Mandelstams Gedicht sieht im August 1932 – im Jahr vor Hitlers Machtergreifung! – „neue Pest“ und „sieben Jahre Blut“ kommen und formuliert in der letzten Strophe dennoch sein Vertrauen in die deutsche Sprache und in das Ur-Buch der Poesie („Du aber lebst, und ich – der in dir ruht“).
S. 143: Das politische Gedicht ist gegen die Aushungerung der Bauern im Rahmen von Stalins erstem Fünfjahrplan gerichtet. Der mit letzterem vorangetriebenen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, einschließlich der „Liquidierung der Kulakenklasse“, der Mittel- und Großbauern, fielen etwa elf Millionen Menschen zum Opfer. Darauf spielt auch das Anti-Stalin-Gedicht von November 1933 an (S. 165), wo Stalin als „Seelenverderber“ und „Bauernschlächter“ bezeichnet wird. Mandelstams Krim-Gedicht gelangte ins Untersuchungsdossier, als er nach seiner ersten Verhaftung am 16./17. Mai 1934 in der Moskauer Lubjanka verhört wurde. Er mußte dem Untersuchungsbeamten den Gedichttext diktieren; der schrieb es auf, und Mandelstam hatte es mit seiner Unterschrift zu autorisieren. Die im KGB-Archiv verwahrte Textversion wurde erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift „Ogonëk“ 1991, Nr. 1. Die Abweichungen von der durch Nadeschda Mandelstam überlieferten Version betreffen die Verse 1, 3, 4, 8 und 11: statt „die hungrige Stadt Staryj Krym“ (golodnyj Staryj Krym) – „die brotlose verschüchterte Krim“ (beschlebnyj robkij Krym; V. 1); statt „Schäferhunde im Hof“ (ovcarki na dvore) – „kleine Klumpen auf der Erde“ (komocki na zemle; V. 3); statt „der gleiche gräuliche, beißende Rauch“ (takoj že seren’kij, kusajušcijsja dym) – „der immergleiche säuerliche, beißende Rauch“ (vsë tot že kislen’kij, kusajušcijsja dym; V. 4); statt „durch die gestrige Dummheit verschönt der Mandelbaum“ (vcerašnej glupost’ju ukrašennyj mindal’) – „durch die österliche Dummheit verschönt“ (paschal’noj glupost’ju; V. 8); statt „in Filzschuhen die hungernden Bauern“ (v tufljach vojlocnych golodnye krest’jane) – „auf der filzartigen Erde die hungernden Bauern“ (na vojlocnoj zemle golodnye krest’jane; V. 11). In einer frühen Variante stand laut Nadeschda Mandelstam in Vers 5 – politisch expliziter, dann durch Selbstzensur verworfen – statt „verstreute Ferne“ (rassejannaja dal’) – „erschossene Ferne“ (rasstreljannaja dal’).
S. 165: Das Anti-Stalin-Gedicht von November 1933, die Umstände seiner Entstehung und Verbreitung sowie die fatalen Konsequenzen für Mandelstam sind Gegenstand des 20. Kapitels der Mandelstam-Biographie Meine Zeit, mein Tier, S. 402–434 („Verfluchte Wohnung“, Moskau/Tscherdyn 1933–1934).
S. 217: Das laut Anna Achmatowa „schönste Liebesgedicht des 20. Jahrhunderts“ fand sich nach dem Tod der Adressatin Marija Petrowych (1908–1974) auch in deren Familienarchiv, mit dem Datum 13./14. Februar 1934. Die einzige wesentliche Abweichung von der durch Nadeschda Mandelstam überlieferten Fassung betrifft den viertletzten Vers: statt „Du, Maria – den Untergehenden eine Hilfe“ (Ty, Marija – gibnušcim podmoga) steht dort „Unsere Zärtlichkeit – den Untergehenden eine Hilfe“ (naša nežnost’ - gibnušcim podmoga). Es könnte sich aber auch um eine frühere Fassung handeln.
Insgesamt waren die Gedächtnislücken Nadeschda Mandelstams nicht sehr zahlreich, und der Akt der Rettung und Bewahrung, den sie mit ihrer Gedächtniskraft leistete, bleibt staunens- und schätzenswert, was ihre Kritiker allzuoft vergessen. Dazu noch einmal das 24. und das 25. Kapitel der Mandelstam-Biographie Meine Zeit, mein Tier („Nadeschda macht sich unsichtbar“ und „Rückkehr aus dem Untergrund“).
In einem Fall jedoch irrte Nadeschda Mandelstam, deren Aufzeichnungen das Textkorpus und die Reihenfolge der Gedichte in unserem Band Mitternacht in Moskau von 1986 bestimmten: Das Gedicht „Nein, nicht ein Kopfschmerz – und doch, reich ihn her, den Mentholstift“ (Net, ne migren’ – no podaj karandašik mentolovyj) datierte sie auf „23. April – Juli 1935“ und rückte es an den Schluß des ersten der drei Woronescher Hefte; in unserer Ausgabe steht es folglich im Band Die Woronescher Hefte. Letzte Gedichte 1935–1937, S. 55. Alle Editoren sind sich inzwischen aufgrund von Autographen-Funden einig, daß es am 23. April 1931 entstand und somit in den Kontext der Moskauer Hefte gehört. Es käme somit im Band Mitternacht in Moskau zwischen die Gedichte „Der Konzertflügel“ (16. April 1931), auf S. 71, und „Nun bewahr es, auf immer, mein Wort“ (3. Mai 1931), auf S. 73, zu stehen.