Mandelstam – Meine Zeit, mein Tier

Biographie


Textprobe aus dem 14. Kapitel

Mandelstam - Meine Zeit mein Tier

Ralph Dutli
Mandelstam – Meine Zeit, mein Tier.
Eine Biographie.

mit zahlreichen Abbildungen
Ammann Verlag, Zürich 2003

Textprobe aus dem 14. Kapitel:

„Nadeschda am Schwarzen Meer“
(Leningrad / Jalta 1925–1926)

[...]

Mitte Januar 1925 trifft Mandelstam in Leningrad auf der Straße Olga Waksel, eine zierliche Schönheit und Schauspielerin, die vom Film träumt. Sie hat eine gescheiterte Ehe hinter sich und einen einjährigen Sohn, für den sie sorgen muß. Mandelstam kennt Olga bereits: Im Sommer 1916 und 1917, als dreizehn-, vierzehnjähriges Mädchen, war sie in Begleitung ihrer Mutter bei Maximilian Woloschin zu Besuch, als auch Mandelstam in Koktebel auftauchte. Jetzt hat sie den zerbrechlichen Charme einer unglücklichen jungen Frau, deren Lebenswünsche und schauspielerischen Träume sich nicht verwirklichen lassen. Mandelstam bringt Olga nach Hause zu Nadeschda. Doch was als Freundschaft zu dritt anfing, endete als die schlimmste Ehekrise. Mandelstam war fast sofort in Olga verliebt, erst heftig, dann besinnungslos.

Dreierbeziehungen waren in der frühen Sowjetepoche nichts Außergewöhnliches, sie galten als schick und progressiv, weil anti-bürgerlich. Die berühmteste „Ménage à trois“ der Epoche hatte den „Trommler der Revolution“ höchstpersönlich zum traurigen Helden: Wladimir Majakowskij war jahrelang der Dritte im Haushalt von Lilja und Ossip Brik. Lilja blieb Majakowskijs lebenslange Liebeswunde. Die Dreierbeziehung der Mandelstams schien anfangs nach Nadeschdas Geschmack zu verlaufen. Sie nannte ihren Mann scherzhaft einen „Mormonen“ und hatte gegen seine fantastischen Pläne, zu dritt nach Paris zu fahren, nichts einzuwenden. Doch rasch geriet das erotische Dynamit außer Kontrolle.

Das bitterböse Kapitel Grenzsituation im zweiten Band der Memoiren Nadeschdas läßt die Ausmaße der Katastrophe ahnen. Noch 1970, als sie das Buch schrieb, schien ihr die ungezügelte Eifersucht die Feder zu führen. Fast täglich sei die junge Schöne vorbeigekommen und habe vor ihrer Nase Mandelstam „entführt“. Die Situation wäre reichlich banal, hätte Mandelstam in jenen ersten Monaten des Jahres 1925 für Olga nicht zwei seiner schönsten Gedichte geschrieben, die er wohlweislich vor Nadeschda verborgen hielt (1935, in der Woronescher Verbannung, als er verspätet vom Selbstmord Olga Waksels in Oslo erfuhr, kamen noch zwei Gedichte hinzu). Es sind die Verse eines schwerverliebten Dichters, der sich seiner Ehefrau gegenüber bereits in Lügen und Ausflüchte verstrickt hatte und oft selber keinen Ausweg mehr wußte. Das Leben war zum freien Fall geworden:

**Das Leben fiel, ein Wetterblitz,
Wie ins Glas die Wimper stürzt,
Lügenprall bis an den Rand –
Keinen, niemand klag ich an.

(TR, S. 195 / 197)


Das Gedicht entwirft eine Utopie absoluter Liebe. Das „goldene Schaffell“, das die Geliebte umgibt, ist das Kleid eines unerhörten Liebesmythos. Ein Traum-Paar wird vorgeführt, das alles hinter sich zurückläßt. Der Reiz des Gedichts liegt in der Spannung zwischen mythisch-erotischer Utopie und winzigen, schlichten Alltagsdetails:

**Willst zur Nacht du einen Apfel,
Honigtee, ganz frisch gemachten?
Zieh ich dir die Stiefel aus,
Heb dich Fläumchen leise auf?

Engel – hell im Spinngewebe,
Goldnes Schaffell dich umgebend,
Strahl von dem Laternenlicht
Schulterhoch beleckt er dich.
(...)
Wie du stocktest allzuplötzlich,
Logst und lächeltest verletzlich,
Und verhaltene Schönheit strich
Hilflos hin dir durchs Gesicht.

Hinter Hüten von Palästen,
Hinter Gärten, schäumend letzten,
Wimpernjenseits liegt ein Land –
Bist dort meine Frau genannt.

Komm wir nehmen trockne Stiefel,
Goldne Bauernpelzchen, tiefe,
Nehmen uns dann bei der Hand
Gehn die gleiche Straße lang,

Blicken uns nie um, erreichen
Strahlend helle Wegezeichen,
Nachtlang bis der Tag anbricht
Zwei Laternen voller Licht.

(TR, S. 195 / 197)


Sogar der Apfel des Sündenfalls fehlt nicht... Mandelstam traf Olga im Leningrader Hotel „Astoria“ und mietete zeitweilig, um ihr nahe zu sein, ein Zimmer im Hotel „Angleterre“ (wo Sergej Jessenin im Dezember desselben Jahres 1925 Selbstmord verüben wird). Um ihr seine Gedichte vorzutragen, nahm er auch gelegentlich eine Mietdroschke und fuhr mit Olga von der Morskaja zur Tawritscheskaja, wo sie mit ihrer Mutter und dem kleinen Söhnchen wohnte. Nadeschda aber hielt die immer häufigeren „Entführungen“ ihres Ehemannes nicht aus und – packte die Koffer. Der bekannte Avantgarde-Maler Wladimir Tatlin (in ihren Memoiren nennt sie ihn nur mit der Initiale T.), der ihr den Hof gemacht hatte, bot sich als Retter an. Doch als Mandelstam einmal zufällig zu früh nach Hause kam und die wartende Nadeschda mit dem Koffer vorfand, kam er zur Besinnung. Als Tatlin klingelte, um Nadeschda abzuholen, machte Mandelstam die Tür auf und verkündete: „Nadja wird bei mir bleiben“. Nadeschdas Abschiedsbrief warf er ins Feuer, rief Olga an und teilte ihr „schroff und grob“ das Ende ihrer Beziehung mit. Das geschah Mitte März 1925. Noch in den Erinnerungen von 1970 klingt das Erstaunen darüber nach, daß die zufällige Rückkehr Mandelstams und der Anblick des gepackten Koffers schicksalhaft ihr Leben bestimmen sollte.

Olga Waksel
„Wimpernjenseits liegt ein Land –
Bist dort meine Frau genannt“:
Olga Waksel, 20er Jahre

Der Spuk dauerte rund zwei Monate. In Nadeschdas Darstellung war es eindeutig Olga, die sich Mandelstam an den Hals warf. In den distanzierten Erinnerungen Olga Waksels war nur der Dichter einem Liebeswahnsinn erlegen, lag vor ihr auf den Knien, weinte und versicherte ihr zum hundertsten Mal, daß er ohne sie nicht leben könne. Wo genau die Wahrheit liegt, ist im Reich des Eros – und bei zwei eifersüchtigen Zeuginnen – schwer auszumachen. Aber der Eindruck eines besinnungslos verliebten Dichters ist angesichts des Gedichts „Das Leben fiel“ nicht abwegig. Nadeschda äußerte in ihren Memoiren den begründeten Verdacht, er habe die Affäre nur gebraucht, um jene beiden unglaublichen Gedichte zu schaffen... Als die verräterischen Verse geschrieben waren, war auch die Krise ausgestanden. Aus dem Land „jenseits der Wimpern“, dem Reich erotischer Utopie, kehrte Mandelstam in die nüchterne Realität zurück.

Das zweite Olga Waksel gewidmete Gedicht zeigt den wahnsinnigen Lauf eines zum Nomaden, zum Ortlosen gewordenen Dichters durch die dunkle Stadt. Spürbar wird eine grenzenlose Verlorenheit. Die bei Mandelstam immer grausamen („stachligen“) Sterne mischen sich wieder ein: „An Licht ist da nichts als die stachlige Lüge der Sterne“. Und das schmerzende Fazit: „Das Leben schwimmt weg“. Selbst die erotischen Motive des Gedichts – Locken, Lippen und Pupillen, die „apfelgleich rosige Haut“ – sind nur noch bitter-sinnliche Elegie.

**Ich lauf durch den Ort der Nomaden, die dunkle Straße,
Dem Faulbeerbaumzweig hinterher in der schwarzen, gefederten Kutsche,
Dem Häubchen von Schnee hinterher und dem ewigen Geräusch einer Mühle…

Ich erinnre mich nur an die Locken, kastanienbraun, ihre Versager,
Umraucht von der Bitterkeit, nein! - eher Ameisensäure;
Von ihnen blieb mir auf den Lippen wie trockener Bernstein.

In solchen Minuten hat mir noch die Luft braune Augen,
Pupillen, die Ringe, umkleidet vom Pelzrand aus Licht,
Und das, was ich weiß von der apfelgleich rosigen Haut...

(TR, S. 175)


Als ob er diesmal Nadeschda entführen wollte, flüchtet Mandelstam mit ihr am 25. März 1925 vor dem zersetzenden Geschehen aus Leningrad in das dreißig Kilometer entfernte Detskoje Selo, ehemals Zarskoje Selo („Zarendorf“). Den neuen Namen „Kinderdorf“ bekam das Städtchen 1921, weil dort Bürgerkriegswaisen beherbergt wurden. In Detskoje kommen die Mandelstams in der kleinen Pension „Sajzew“ unter, die sich im Gebäude des Lyzeums eingenistet hatte. Es ist jene berühmte Lehranstalt, wo Alexander Puschkin 1811 bis 1817 zur Schule ging und seine ersten Verse schrieb. Doch das Paar ist hier mit sich selbst beschäftigt, die Literatur scheint fern. Während des Aufenthaltes in Detskoje erschien Anfang April 1925 im Leningrader Verlag „Wremja“ Mandelstams autobiographisches Buch Das Rauschen der Zeit, sein Abschied von der Kindheit, vom alten, vorrevolutionären Rußland.

Mandelstam wollte das Leben mit seiner Frau nach der Krise neu beginnen. Nadeschda war von allem arg mitgenommen. Auch gesundheitlich ging es ihr immer schlechter. Sie hatte Fieberanfälle und Schwächezustände. Und sie bat Mandelstam um ihre Freiheit: „Wozu brauchst du mich? Warum hältst du mich zurück? Wieso soll ich so leben – wie in einem Käfig? Laß mich gehen...“ Mandelstam erleidet in jenem Frühjahr 1925 – das genaue Datum ist unbekannt – seinen ersten Herzanfall und wird fortan immer öfter von Beschwerden und Atemnot heimgesucht werden. Moralisch und gesundheitlich angeschlagen, aber fürs erste versöhnt, kehren die beiden am 24. April nach der gemeinsamen Quarantäne in Detskoje nach Leningrad zurück.

Die Nachwelt machte sich von diesem Paar ein mythisches Bild. Joseph Brodsky sah in ihm, mit allerdings vertauschten Rollen, eine moderne Inkarnation von Orpheus und Eurydike. Nadeschdas heroische Rolle als Bewahrerin von Mandelstams Gedichten und als souveräne Memoiristin wird dazu beitragen, dieses Ehepaar in einem strahlenden Licht erscheinen zu lassen. Doch häufiger Streit gehörte zu ihrem gemeinsamen Leben, wie das Kapitel Erste Streitigkeiten im zweiten Band der Memoiren nachdrücklich festhält. Die Geschichte der „großen Paare“ braucht kein Idyll zu sein.

Mandelstam verhielt sich von Anfang an als eifersüchtiger Patriarch, ließ Nadeschda keine eigene Arbeit suchen, ließ sie nirgendwo hingehen und verlangte ihr völliges Aufgehen in seinem Leben (wie er es im „Lea“-Gedicht 1920 vorgesehen hatte). Nadeschda war für ihn auch die unersetzliche Person, der er seine Texte diktierte. Mandelstam schrieb fast nie, sondern ging im Zimmer auf und ab, murmelte zunächst Unverständliches und hörte auf das „innere Bild“, das laut seinen Vorstellungen dem geschriebenen Gedicht vorausgehe und vom Gehör des Dichters „betastet“ werde. „Noch kein einziges Wort ist da, doch das Gedicht klingt bereits“ – so wird der geheimnisvolle Vorgang im Essay Das Wort und die Kultur (1921) dargestellt (GP, 87). Als die Worte schließlich kamen, schrieb er sie nicht selber auf, sondern diktierte sie wie im Fieber – Nadeschda.

Sie war gleichsam sein menschliches Diktiergerät, das immer verfügbar sein mußte. Auch die Prosa wurde diktiert. Nadeschda schildert das Entstehen von Das Rauschen der Zeit in Gaspra auf der Krim, im Sommer 1923. Mandelstam ging zuerst eine Stunde alleine spazieren, dann kam er „angespannt und böse“ zurück und verlangte, daß sie sofort die Bleistifte anspitze und aufschreibe. Er diktierte sehr schnell, meist ein ganzes Kapitel dieser dichten Prosa auf einmal. Wollte sie eine Bemerkung einwerfen, wies Mandelstam sie zurecht: „Still! Misch dich nicht ein... Du verstehst nichts davon, also schweig“. Nicht selten kam es bei diesen Sitzungen zu heftigem Streit.

Mandelstams tyrannisches Verhalten beim Diktat seiner Werke mußte auf Außenstehende absonderlich und abstoßend wirken. Schwer nachfühlbar war, daß er selber wie unter Zwang stand: unter dem Diktat eines herrisch sich äußernden Werks. Er war alles andere als ein Vielschreiber, lange Schweigeperioden lagen zwischen den fieberhaften Schaffensphasen. Kamen dann die Worte zum Vorschein, gab es keinerlei Aufschub. Das ruppige Diktierverfahren bezeichnete die Zeitgenossin Emma Gerstein als „sadistisches Ritual“. Aber Paare sind komplexe Verbindungen, für Außenstehende schwer verständliche Phänomene. Im Handkehrum, wenn es nicht um das Entstehen seiner Werke ging, war Mandelstam rührend um Nadeschda besorgt. Sie schildert im Kapitel Honigmonat eine Episode, als die beiden während des Sommers 1921 im georgischen Batumi am Schwarzen Meer auf einer Terrasse die Nacht verbrachten. Nadeschda erwachte mehrmals und sah Mandelstam auf einem Stuhl neben ihrer Matratze sitzen: mit einem Blatt Papier wedelnd und die Moskitos von ihr wegscheuchend. Und die Memoiristin fügt hinzu: „Gott, hatten wir es gut zusammen – warum haben sie uns unser Leben nicht gemeinsam zu Ende leben lassen...“

Der eifersüchtige Patriarch, der Tyrann beim Diktat, der rührend besorgte Moskitojäger: Die Wirklichkeit von Ehegatten ist vielfältig. Ihr Zusammenbleiben war dennoch erstaunlich. Denn Nadeschda, die als junge Frau in den Kreisen der freizügigen, aufbruchsüchtigen Malereistudenten des revolutionären Kiew verkehrt hatte, wollte unabhängig sein und sich niemandem unterordnen. Weder Sanftheit noch Geduld noch besondere Treue seien ihre Eigenschaften gewesen, immer habe sie Lust auf Abenteuer gehabt, und streiten konnte sie so gut wie ihr Mann. Wie es Mandelstam gelang, sie dennoch an sich zu binden – dieses Rätsel wird noch die Autorin des Kapitels Erste Streitigkeiten umtreiben.

Im Fernseh-Interview von 1973 hielt Nadeschda fest, tagsüber hätten sie sich oft gestritten, „doch die Nächte waren gut, in den Nächten haben wir uns geliebt“. Die sexuelle Anziehung zwischen den Partnern muß stark gewesen sein. Das „physische Gelingen“ dieser Beziehung, so die Memoiren, habe Mandelstam nicht als Herabsetzung ihrer Liebe verstanden, sondern im Gegenteil. Ungleich Alexander Blok, der in seinem Liebesmythos der entrückten „Schönen Dame“ nachhing, habe Mandelstam seine Liebe mit einem „schlichten Mädchen“ (dewtschonka) verwirklichen wollen, mit dem „alles zum Lachen, simpel und idiotisch“ sei, aber allmählich jene „äußerste Nähe“ sich entwickle, wo man sagen könne: „Mit Dir bin ich frei“.

Sexualität war für Mandelstam unverbrüchlich mit dem Leben verbunden, bedeutete Vitalität. Die Metapher des „geschlechtslosen Raumes“ in einem Woronescher Gedicht von 1935 („Nein, nicht ein Kopfschmerz“; WH, 55) bezog sich auf den Tod. Geschlechtslosigkeit bedeutete für ihn Gleichgültigkeit, Unfähigkeit zur Wahl, zu einem moralischen Urteil. Mandelstams Werk ist in erotischen Dingen zurückhaltend, und dennoch ist unverkennbar, daß es auch von diesem Feuer sich nährt. Doch das Erotische entsteht – in den Gedichten für Marina Zwetajewa, Salomeja Andronikowa, Tinatina Dschordschadse, Olga Arbenina, Olga Waksel und Maria Petrowych, aber auch für Nadeschda Mandelstam („Europas zarte Hände, nehmt euch – alles!“ TR, S. 127) – in der Evokation von scheinbaren Nebensächlichkeiten, in verhalten gezeigten, zärtlich beschworenen körperlichen Details (Stirn, Pupillen und Wimpern, Hals, Schultern und Hände, Haut). Kein plakatives Vorzeigen regiert, sondern ein sublimierter, suggestiver Eros.

Nadeschda Manelstam
„Hast du in Melitopol
eine Zuckermelone gekauft?“
Nadeschda Mandelstam, um 1925,
Foto von Moissej Nappelbaum

Erst allmählich wuchsen die Mandelstams zu einem starken, unzertrennlichen Paar zusammen, dessen Liebe die gemeinsame Freundin Anna Achmatowa, deren drei Ehen durch Scheidung endeten, immer staunen machte: „Ossip liebte Nadja unglaublich, unvorstellbar. (...) So etwas ist mir in meinem ganzen Leben nicht wieder begegnet.“ Wer nur das für Außenstehende schwer verständliche, ruppige Diktat vor Augen hat, dieses angeblich „sadistische Ritual“, muß das Wesen des Paares verfehlen. Nach der Waksel-Affäre und der großen Ehekrise sollte diese Liebe sehr bald die beste Möglichkeit zur Bewährung bekommen.

Im September 1925 stellten die Ärzte bei Nadeschda Tuberkulose fest und rieten ihr dringend, für einige Zeit im Süden zu leben, auf der Krim, in Jalta, wo schon Anton Tschechow seine Tuberkulose zu kurieren versuchte. Wir verdanken dieser mehrmonatigen Abwesenheit ein Konvolut von rund fünfzig Liebesbriefen, die einen fürsorglichen, liebenden Mandelstam in zärtlichen Alltagsgesten zeigen. Er blieb in Leningrad und versuchte mit seinen Brotarbeiten, Übersetzungen und Verlagsgutachten, Nadeschdas Aufenthalt auf der Krim materiell sicherzustellen. Kein Berufsverband, keine Versicherung übernahm die Kosten: Mandelstam war seit seinem Austritt aus dem Schriftstellerverband im August 1923 auf sich allein gestellt. Als Nadeschda am 1. Oktober 1925 nach Jalta fährt, bezieht Mandelstam ein kleines Zimmer in der Wohnung seines Bruders Jewgenij auf der Wassilij-Insel, 8. Straßenlinie, Nr. 31. In dem Haushalt lebten, nach dem frühen Tod von Jewgenijs erster Ehefrau Nadeschda Darmolatowa, auch dessen Schwiegermutter und die fünfjährige Tochter Tatka (Natascha), aber auch der Vater Emil Mandelstam.

Mandelstams Briefe an Nadeschda von 1925 und 1926 sind Lageberichte vom zermürbenden Kampf um Geld, gespickt mit Aufzählungen der Rubelbeträge, die die literarische Plackerei voraussichtlich einbringen würde. Und es sind immer wieder sich überbietende Liebesbotschaften. In zahlreichen Verkleinerungsformen und Abwandlungen des Namens Nadeschda (das russische Wort für „Hoffnung“) schöpft Mandelstam die sprachlichen Möglichkeiten des Zärtlichseins aus: Nadja, Nadka, Nadinka, Nadjuschka, Naditschka usw. Häufig sind auch die grammatisch eindeutigen Vermännlichungen des Namens: Nadik, Nadjuschok, Nadjonysch. Diese ruppig-zärtlichen Nuancen kennt nur das Russische. Überhaupt ist der Wechsel des Geschlechts ein Grundmotiv in diesem Liebesgespräch. So wird sich Mandelstam sehr oft den weiblichen Spitznamen „Njanja“ (Kindermädchen) geben, zuweilen aber auch von diesem weiblichen Wort ins verballhornte Männliche zurückhüpfen: „Dein Njan“.

Die zärtlichen Kosenamen für Nadeschda sind Legion: „Tierchen“ und „Täubchen“, „Schwälbchen“ und „Schäfchen“, aber auch „Sönnchen“, „liebes kleines Krummchen“, „Krummbeinchen“, „mein Stotterchen“. Ihre Gesichtszüge kommen immer wieder ins Spiel, ihr breiter Mund, ihre gewölbte Kinderstirn, aber auch andere Körperteile: „Härchen“, „Pfötchen“, „Äugelchen“, „Schulterchen“, „Beinchen“ in jener kopflosen Albernheit, die Liebenden eigen ist. Der formenreiche russische Diminutiv prägt diese Alltagsversion des Hoheliedes: „Ich küsse deine Granatäpfelchen“ (MR, S. 104).

Alle Familienrollen – die beiden hatten keine Kinder – spielten sie aneinander durch. Sie ist sein Kind, sein Kindchen, sein Töchterchen, sein Schwesterchen, einmal aber auch sein „Söhnchen“ (MR, S. 116). Er ist ihr „Freund“, „Bruder“, „Mann“, aber eben auch ihre „Njanja“, ihr Kindermädchen. Nadeschda war für ihn schlicht: „Mein Leben: versteh doch, daß Du mein Leben bist!“ (am 11. November 1925). Einmal postuliert er eine Identität der Liebenden: „Daß ich durch und durch Du und um Dich herum bin“ (12. Februar 1926), ein andermal eine gemeinsame Atemluft (10. März 1926). Immer wieder beschwört er den Schutz, den diese Liebe beiden gewähren soll: „Die Liebe behütet uns, Nadja. Wir brauchen vor nichts Angst zu haben“ (7./8. Februar 1926). Und das Lebensfazit: „Um so zu lieben, lohnt sich das Leben, Nadik-Nadik!“ (5. März 1926).

Mandelstam versuchte sie zu trösten. Er selber litt stark unter der für ihre Gesundheit notwendigen Trennung. Die Briefe an Nadeschda waren seine Atempausen im Kampf noch um den geringsten Rubelbetrag. Der Ton der Liebesbriefe aber ist meist fröhlich. Sie bezeugen immer wieder eine unbändige Lebensfreude. Mandelstam war ein dem Leben und seinen kleinen Genüssen zugewandter Dichter und forderte Nadeschda ebenfalls zu dieser Lebensphilosophie auf: „Hast Du in Melitopol eine Zuckermelone gekauft? Mein Kindchen, freu Dich am Leben, wir sind glücklich, freu Dich wie ich auf unser Wiedersehen“ (am 15. Oktober 1925). Das Rätsel von Mandelstams „unbändiger Lebensfreude“ und „geistiger Heiterkeit“ – bei aller Tragik seiner Lebensumstände – wird die Memoiristin Nadeschda immer wieder zutiefst verwundern.

[...]

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