Kafkas Sätze

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In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton
Montag 8. September 2008, Nr. 210, S. 36

In Buchform:

KAFKAS SÄTZE
Herausgegeben von Hubert Spiegel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 170f.

„Weil ich,“ sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt.“

Es ist alles eine Frage des Appetits. Der eine giert nach Macht und Moneten, der andere nach Liebe, Luxus, Lukullischem, ein dritter nach süßem Nichtstun oder stoischer Gelassenheit. Kafkas Hungerkünstler will nichts von alledem, aber keiner soll behaupten, er giere nach gar nichts. Nein, er ist ehrgeizig, geradezu süchtig nach Ruhm, er will, dass die Menschen ihm bewundernd zuschauen, wenn er in seinem Käfig hungert. Seine Tragödie ist nicht das Hungernmüssen aus bitterem Entbehren, denn er hat sich längst damit abgefunden, dass die Welt nicht nach seinem Geschmack ist. Seine Unzufriedenheit mit sich selbst rührt nur daher, dass ihm das Hungern so schrecklich leichtfällt („Es war die leichteste Sache von der Welt“). Sein wahres Drama ist das allmähliche Ausbleiben des Publikums. Er legt sich mächtig ins Zeug, um den Zuschauer an sich zu binden. Er muss jedesmal an die Grenze gehen, an die Grenze des Lebens. Seine spektakuläre Erfahrung will er dem Publikum zum Fraß vorwerfen, es mit seinem Schauhungern nähren, hätscheln und verblüffen. Er ist ein Künstler. Kafka genießt es offensichtlich, dass der Hunger und die Kunst in ein einziges Wort zusammengedrängt sind, unablösbar aneinander kleben. Das Wort „Hungerkünstler“ duldet dank der Lust der deutschen Sprache am Kompositum keinen Zwischenraum.

Kafkas Sätze sind selber Hungerkünstler, elegantes Schauhungern ist ihr Stil. Es sind luxuriöse Modelle der Schlankheit und der asketischen Wahrung einer makellosen Form. Manchmal geraten sie, nach einer Folge kurzer Fastenperioden, üppiger, und gerade diese fetteren unter ihnen enthalten die Offenbarung. Zwischen das zweimalige „weil ich“ (die eigentliche Begründung der Hungerkunst) schiebt Kafka seelenruhig eine ganze Menge ein: den Stabreim von „Köpfchen“ und „Kuss“, das Ohr des Aufsehers, mithin das letzte Organ schwindender Aufmerksamkeit, und den ultimativen Ehrgeiz des Hungervirtuosen („damit nichts verloren ginge“).

Genauso verletzend ist natürlich der gleich darauf folgende Satz: „Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ Der Künstler ist nicht „wie du und alle“, ein jeder hat für seine Kunst zu zahlen, eben mit seinem unverständlichen Hunger, und das bisschen Eintrittsgeld, das ein Publikum für seine Ergötzung bezahlen muss, ist läppisch gering. Kafka hat keine schönere Parabel auf die einsame Wahrheit des Künstlertums geschrieben als die Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Am Schluss bleibt dem unterm Stroh vergessenen, winzig gewordenen Artisten – kurz vor seiner Verwandlung in Kehricht – nur das Ohr des Aufsehers, in das er mit letzter Kraft seine stolze und vernichtende Lebensdevise haucht.

RALPH DUTLI