Hommage an die Wirbelsäule

Ralph Dutli

Brodskys letzte Essays
oder
Was der russische Nobelpreisträger den Tarzanfilmen verdankt

August 1998

Am Anfang war eine Dose Corned Beef. Dann kam ein Kurzwellenradio, und mit ihm die Götter des Jazz von Duke Ellington bis Charlie Parker. Dann kamen Filme, von den sowjetischen Streitkräften als Kriegstrophäen erbeutet, und die Schönheit Zarah Leanders strahlte in die Gehirne der russischen Jugend. Später dann kamen die langen Haare, die Röhrenhosen und flugs auch die ersten Blue Jeans. Im gebeutelten Leningrad war – Wunder über Wunder – auch ein versprengter Citroën 2 CV aufgetaucht „wie ein zarter, doch selbstgenügsamer Schmetterling mit seinen zusammengefalteten Flügeln aus Wellblech.“

Was Joseph Brodsky in seinem autobiographischen Essay „Kriegsbeute“ versammelt, sind jene winzigen Details, mit denen die westliche Welt ins Bewußtsein eines sowjetischen Jugendlichen krabbelte und sich dort festhakte, um allmählich zum Mythos anzuwachsen. Aber nicht bloß erinnerungstrunken reiht Brodsky die Einzelheiten: Sie waren schleichendes Gift für den Sowjetstaat, und vielleicht sogar Dynamit, das später tatsächlich hochgegangen ist. „Allein die Tarzanfilme, so wage ich zu behaupten, haben mehr zur Entstalinisierung beigetragen als alle Reden Chruschtschows auf dem 20. Parteitag und danach.“ Denn im kollektivierten Sowjetbewußtsein wurden sie als „Parabeln des Individualismus“ wahrgenommen, als exotische Früchte eines „Einer gegen alle“- Geistes.

Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, verbrachte seine ersten Lebensjahre unter der Blockade der Stadt, als die deutschen Truppen von September 1941 bis Januar 1944 neunhundert Tage lang die „Wiege der Oktoberrevolution“ durch Artilleriebeschuß und Aushungerung zu zermürben versuchten. Wer als Kleinkind den Horror überlebt, macht sich wenig Illusionen über den Gang der Welt, ist aber manchmal empfänglicher für deren zauberhafte Details. Jetzt weiß man auch, wo Brodskys Venedig-Kult – nachlesbar in seinen „Venezianischen Strophen“ und in seinem hinreißenden Venedig-Essay „Ufer der Verlorenen“ (Hanser Verlag) – seine zarten Keime hatte. In den frühen sechziger Jahren schenkte ihm ein Mädchen zum Geburtstag ein akkordeonartiges Set von Postkarten mit Bildern der Lagunenstadt. Das Virus drang ins Dichterblut.

Doch das Sowjetsystem nahm sich bald darauf vor, dem Poeten die Träume auszutreiben: 1964 wurde er nach einem himmelschreiend schwachsinnigen Prozeß wegen „Nichtstuerei“ und „Parasitentums“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit im russischen Norden verurteilt und 1972 zum Verlassen der Sowjetunion gezwungen. Das Exil in New York ist Brodsky bekanntlich bestens bekommen: Neben seinem lyrischen Werk in Russisch begann er bald auf amerikanisch seine von Witz und Wissen sprühenden Essays zu schreiben – zu unserem Glück. 1987 dann, als sei’s ein Märchen, mußte sich der einstige „Parasit“ einen Frack überziehen und nach Stockholm reisen: Der Literatur-Nobelpreis erwartete ihn. 1996, allzufrüh, mit fünfundfünfzig Jahren, ist Brodsky seiner Herzkrankheit erlegen.

Der ironische und genießerisch detailbesessene „Kriegsbeute“-Text eröffnet den zweiten Flügel von Brodskys letzten Essays mit dem – leider zutreffenden – Titel „Der sterbliche Dichter“. Der erste war 1996 unter dem Titel „Von Schmerz und Vernunft“ ebenfalls bei Hanser erschienen. Es sind diverse Gelegenheitsarbeiten dabei, doch bei Brodsky ist noch der kleinste Plunder von einer blitzgescheiten Art und einer staunenmachenden (von der Übersetzerin Sylvia List bravourös gemeisterten) Brillanz und Dichte. Selbst eine Spionage-Geschichte hat sich zu ihm verlaufen: Im Essay „Sammlerstück“ spürt er der Karriere des britisch-sowjetischen Doppelagenten und Meisterspions Kim Philby nach.

„Versuchen Sie also, leidenschaftlich zu bleiben“

Daß nicht die ungezählten Liebschaften die eigentlichen Musen der Dichter sind, versucht der zentrale Essay „Altra ego“ zu beweisen: Die „Stimme der Sprache“ sei die Muse der Dichter, und wenn wir für immer indiskret und biographieversessen die Gesichtszüge ihrer Geliebten und Mätressen erspähen wollen, befinden wir uns auf einem kapitalen Holzweg. Höchst erhellende Seiten widmet Brodsky diesem spannenden Paar: Dichterliebe und Liebesdichtung. Zweimal hält der exilierte Poet Reden vor Studenten auf einer Abschlußfeier und legt eine lebenskluge Ethik vor und eine wunderliche Würdigung der Langeweile: „Denn Langeweile spricht die Sprache der Zeit und gibt Ihnen die wertvollste Lektion Ihres Lebens, die Lektion von Ihrer völligen Bedeutungslosigkeit. ‚Du bist endlich’, sagt Ihnen die Zeit mit der Stimme der Langeweile, ‚und was immer du tust ist von meinem Standpunkt aus nichtig’.“ Dann aber – typisch Brodsky – reißt er sein Steckenpferdchen herum und das Lob der Langeweile wird zum paradoxen Plädoyer für Leidenschaft: „Versuchen Sie also, leidenschaftlich zu bleiben, überlassen Sie Kühle den Sternbildern.“

Endlichkeit, Sterblichkeit – Brodsky hat ihr schon immer mutig ins Auge geblickt. Einer der besten Essays, „Nach einer Reise oder Hommage an die Wirbelsäule“, entstand nach einem Aufenthalt in Rio de Janeiro samt ödem Schriftstellerkongreß. Brodsky ist gereizt und gequält: von seinen Herzrhythmusstörungen, dem schwülen Klima, der Doofheit gewisser Zeitgenossen. Einige Porträts derselben sind so scharf und so witzig, als hätte sein russischer Kollege Vladimir Nabokov ihm die Feder geführt. Brodsky setzt sich aber mächtig für die exil-vietnamesischen Schriftsteller in Australien ein, wofür sie sich bestimmt „mit einem Känguruhohrengulasch“ revanchieren werden, und kämpft tapfer gegen den Überdruß am Schriftstellerzirkus wie am Dasein („als gäbe es in der Welt irgend etwas außer Verzweiflung, Neurosen und der Angst, jede Sekunde in Rauch aufzugehen“). Zurück in New York fallen ihm dann dennoch lesenswerte Einsichten ein über das Reisen und das Zuhausesein – Rio de Janeiro hat sich also doch gelohnt (für uns!).

In diesem wunderlichen brasilianischen Souvenir gibt es aberwitzig Frivoles, etwa eine hausgemachte Brodskysche Samba: „Komm nach Rio, o komm nach Rio. / Iß Ananas und mach auf Bio. / Wer reich ist, wird reicher, wer arm ist, ärmer, / Hier ist jeder Greis ein Nazischwärmer.“ Und daneben Tiefgründiges und ethische Prinzipien, die einen bei dem sonst hochgemut Wert und Würde der Literatur verteidigenden Essayisten Brodsky nicht schlecht verblüffen können: „Weil das Wichtigste nicht die Literatur ist, sondern die Fähigkeit, niemandem Schmerz zuzufügen.“

Joseph Brodsky: Der sterbliche Dichter.
Über Literatur, Liebschaften und Langeweile.
Aus dem Amerikanischen von Sylvia List.
Carl Hanser Verlag, München/Wien 1998, 312 S.

Ralph Dutli, 1998