Himbeerblut der Sprache

In: Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Sprachglossen deutscher Autoren. Herausgegeben von Klaus Reichert.
Valerio 6, S. 33, 2007 (Die Heftreihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung),
Wallstein Verlag, Göttingen 2007

Ralph Dutli


**Himbeerblut der Sprache


alle Sprachen untergegangen keine tot wir
nutzen sie eine Weile ab & schaffen neue rauhe du
wühlst sie um kreist besinnungslos
in ihr löst dich auf spuckst sie entzückt
wie den Traubenkern in den Himmel
aber wie kurz? du blätterst
träumend im Lexikon der untergegangenen
Sprachen jede Sprachflosse meine Zunge zerteilt das vergangene
Wasser abseits abwärts immer
entlang der Zeit zickige Sprache Zunder
Zimt ihrer Laute zarte Asche
sie ist wie die Himbeere will immer-gerne süß sein
dolce stil nuovo und ja doch bittersüß
wie Sapphos himbeerroter zarter Scherbenhaufen
aber liest du mit der Lupe: das Himbeerblut der Sprache
macht dich sprachlos die uralte Beere
ärgste Giftmischerin aller Zeiten mit mehr
als hundert verblüffend natürlichen Chemikalien!
(man muss mit Sprachen hadern die man liebt)
samt Cumarin dem Gift für die singende Leber
so eine Himbeere zu schaffen
mit Aldehyden & Säuren das Produkt
gehörte verboten! wer das Reine sucht
verfällt dem eigenen / Gift

Laut einer Pressemeldung vom Februar 2007 werden bis zum Ende des 21. Jahrhunderts 90% aller heute existierenden Sprachen verschwunden sein. Keiner weiß, wie viele in dieser Zeit in den Büchern der Dichter entstehen werden.