Herztod im Gedicht

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Ralph Dutli

Nachruf auf Joseph Brodsky

Februar 1996
<div style="text-align:center">Joseph Brodsky<br><br>(Foto: INTERFOTO / ALAMY STOCK FOTO)</div>
Joseph Brodsky

(Foto: INTERFOTO / ALAMY STOCK FOTO)

Wer mit Lyrik beschauliche Gemütlichkeiten assoziiert, der muß an Brodsky verzweifeln. In seiner Nobelpreisrede von 1987 sprach er von der Poesie als einem „kolossalen Beschleuniger des Bewußtseins, des Denkens, der Wahrnehmung der Welt“. Der moderne Teilchenbeschleuniger der Poesie konnte in seiner staunenmachenden Sprachmacht mit astronomischen Größen ebenso umgehen wie mit dem Kleinsten und Unscheinbarsten: Sein durchtrieben philosophisches einundzwanzig-teiliges Poem auf eine „Fliege“ (1985) ist beredtes Zeugnis dafür. Keine Poesie ist der Weinerlichkeit abgeneigter als die Poesie Brodskys: „Ich erlaubte meinen Stimmbändern alles, bloß keine Klagen“. Daß er bei aller Illusionslosigkeit über den Gang der Welt so bilderreich aus zahllosen kulturellen Schätzen schöpfen konnte, ist eines seiner spannenden Paradoxe. Raffinierte Ironie, die manchmal auch in zynisches Frotzeln überging, klang aus seinem Mund wunderbar poetisch.

So kolossal beschleunigt wie seine Poesie kam sein Tod am 28. Januar. Brodsky war fünfundfünfzig. Sein Leben begann am 24. Mai 1940 in Leningrad, der Stadt, in der liebevolle Erinnerungen an seine Eltern angesiedelt sind, die für ihn aber auch Anlaß wurde zu einer so scharfen Analyse des Sowjetimperiums, daß die Stadt darüber ihren Namen vergaß und heute wieder ganz anders heißen will. 1963 schrieb er seine „Große Elegie für John Donne“, das atemberaubende Gedicht vom Schlaf der Welt, das er einmal, wie sein Freund Anatoli Naiman berichtete, völlig unerwartet und laut psalmodierend in einer Bahnhofhalle den arglos Wartenden in die Ohren schrie. Die braven Sowjetbürger waren entsetzt.

Entsetzt über soviel lyrische Frechheit und Freiheit gab sich auch die Richterin in dem 1964 gegen Brodsky angezettelten Prozeß. Wegen „Nichtstuerei“ und „Parasitentums“ (sprich: nonkonformen, von offizieller Seite unbeaufsichtigten Gedichteschreibens) wurde er zu fünf Jahren Zwangsarbeit im russischen Norden verurteilt, die dank weltweiter Proteste nach 18 Monaten ein Ende fand. 1972 verspürte der Sowjetkoloß die Neigung, ein bißchen die Poesie zu imitieren und Brodskys Schicksal zu beschleunigen. Er wurde zur Ausreise gezwungen. Sein Exil in New York hat ihn aber alles andere als die Sprache verlieren lassen. Er gewann lieber eine dazu. Parallel zu seinen ab 1977 erschienenen russischen Gedichtbänden („Das Ende einer schönen Epoche“ u.a.) übersetzte er seine Gedichte erstaunlich bald selber in ein prunkvolles barockes Amerikanisch, und seine Essays sprachen nur noch die Sprache des Exils. 1987 mußte sich der einstige „Parasit“ einen Frack überziehen, weil er als Literatur-Nobelpreisträger nach Stockholm gerufen wurde.

Bei allem Heimischwerden jenseits des Ozeans – als ob Brodsky je anderswo heimisch gewesen wäre als in der Sprache – blieb er ein Europakenner und verliebter Italien-Reisender. Wer sich nicht an seine Gedichte traut (Vorsicht, Gefahr! Wirklich große Poesie), sollte sein herrliches Venedig-Buch „Ufer der Verlorenen“ (1991, Hanser Verlag) lesen, um dem brillanten Essayisten, Augenmenschen, Sinnenmenschen Brodsky zu begegnen.

Wie kein zweiter Dichter war der illusionslose Brodsky vernarrt in die Schönheit (und sei es abgewrackte Schönheit), hatte sein Herz an kulturgesättigte Städte wie Rom, Venedig und Florenz gehängt. Daß dieses Herz gefährdet war, wußte er längst: Von einer By-Pass-Operation zur andern wird der Lebensfaden allmählich dünner. Über drei Jahrzehnte alt ist Brodskys Gedicht-Nachruf auf einen Freund, in dem der Herztod längst vorausgenommen war: „Eines Tages / wird ihm – dem Herzen – / etwas zustoßen. / Dann wird sich einer von uns, / achttausend Kilometer westlich von dir, / auf dem schmutzigen Asphalt hinstrecken, / seine Bücher gleiten ihm aus der Hand...“ Am Sonntag sind einem großen Dichter die Bücher entglitten. Die kolossale Beschleunigung war seinem Herzen zuviel geworden.

Ralph Dutli, 1996