Ein Fest mit Mandelstam – Kostprobe

Göttliches Eis

In Mandelstams erster Gedichtsammlung Der Stein (1913, erweitert 1916) steht unweit der großen Ode an Beethoven und unweit der Gedichte aus Mandelstams sogenannter „katholischen Phase“ ein seltsames Gedicht von 1914, das ebenfalls religiöses Vokabular enthält, doch von etwas ganz anderem spricht: von Eis. Gemeint ist Speiseeis, Eiscreme. Und das sollte bei diesem Geburtstagsmahl nicht fehlen und wird sogleich aufgetischt:

**„GEFRORENES!“ Sonne. Die Luft – ein Biskuit.
Beschlagen das Glas voll von eiskaltem Wasser.
Und hin zu den milchigen Alpenterrassen –
Ins Land der Schokolade: unser Traum, wie er fliegt!

Ein Löffelchen klirrt. Dann dein artiger Blick –
Daß du gnädig versorgt seist von Backpulver-Grazien,
Inmitten der Lauben, bestaubten Akazien
Zerbrechliche Kost auf die Zunge dir schiebst.

Leierkastens Bruder, mit farbigem Bauch:
Ein fahrender Eisschrank kommt plötzlich gezogen –
Ein Junge schaut aufmerksam-gierig von oben,
Blick: in die herrliche Truhe getaucht.

Kein Gott weiß, in was er in Kürze da beißt:
Hat er diamantene Sahne, hat er Waffeln genommen?
Doch schnell wird verschwinden, was glänzt in der Sonne,
Ein Hauch nur – und weg ist das göttliche Eis! [1]

Auch Simples und Modisches besungen

Derselbe Dichter, der Texte gegen Stalin verfaßt, 1923 sehr ernsthaft mit Ho Chi Minh ein Interview gemacht [2] und im Umkreis der Oktoberrevolution Gedichte geschrieben hat, in denen er die ganze abendländische Kulturfracht in bizarren Ritualen herzauberte und aufleben ließ – derselbe Dichter hat auch das Simple und das Modische ironisch besungen, das Stummfilmkino, die Sportarten Tennis und Fußball, den modernen Tourismus [3], und hier also auch das Vergänglichste, das am allerschnellsten Wegschmelzende: das Eis, das jeder, der Sprecher des Gedichtes wie der beobachtete Junge, und ganz gewiß auch der Leser, auf der Straße – und im Gedicht! – genießen kann.

Ein Gedicht, das scheinbar von nichts anderem spricht als von Eiscreme. Das scheinbar leichtsinnigste Gedicht. Und wenn es sein tiefsinnigstes wäre?

Spricht es nicht vom Leben, vom ganzen Sein und dessen Gefährdung, von seiner Tendenz, sehr schnell wegzuschmelzen? Warum göttliches Eis? Was ist das göttliche Eis anderes als das Leben selber? Die pure Zerbrechlichkeit, die fragile Gabe, in der ein göttlicher Funke hausen könnte.

Markant ist die Tendenz dieses Gedichtes, religiöses Vokabular einzuschmuggeln, wo man es eigentlich gar nicht erwartete. Es zeigt Einsprengsel von äußerst archaischem, kirchenslawischem Wortschatz, der in der deutschen Übertragung kaum spürbar zu machen ist. Für die zerbrechliche Kost etwa das uralte: sned', oder das Verb „wissen“ in der Zeile die Götter wissen nicht: archaisch als ne wedajut.

Ein Gedicht, in dem Triviales auf Sakrales prallt, betont Umgangssprachliches auf Einsprengsel von Liturgie. Von Eiswaffeln ist da die Rede, vom Traumland der Schokolade – und von Göttern...

Freiheit, das Leben zu nutzen

Wenn das Gedicht also nicht nur von Eiscreme spricht, sondern auch vom Leben, so kann man nicht übersehen, daß es in einem Vers auch von der Freiheit spricht, dieses Leben zu nutzen:

**Kein Gott weiß, in was er in Kürze da beißt:
Hat er diamantene Sahne, hat er Waffeln genommen?

Das zerbrechliche Geschenk des Lebens wird für einen Augenblick der Macht der Götter entzogen. Einen Moment lang gibt es die Möglichkeit der Wahl, die jedem zusteht. Auch der Sprecher des Gedichtes weiß nicht mehr als die Götter, weiß nicht, was der Junge wählen wird. Dem Straßenjungen und Menschen gewährt das Gedicht den kurzen Augenblick der ihm zustehenden freien Wahl, erinnert ihn aber sofort an die Vergänglichkeit des Geschenks:

**Doch schnell wird verschwinden, was glänzt in der Sonne:
Ein Hauch nur – und weg ist das göttliche Eis!

Verweilen wir nicht zu lange bei diesem Gedicht, beschweren wir nicht allzusehr seine Schwerelosigkeit. Einen Hauch nur und weg! Für einen Augenblick aber ist eine zweite Lektüre vielleicht möglich erschienen, kurz und vergänglich wie jene Möglichkeit der Wahl, wie die Gabe des Lebens, wie das göttliche Eis.

Doch auch eine erste und „oberflächliche“ Lektüre gefällt mir, und einem Leser, dem die zweite Lektüre dieses „harmlosen“ Gedichts als Überinterpretation fernliegt, kann ich mit ebenso großem Vergnügen und guten Gewissens versichern: Dieses Gedicht spricht nur von Eiscreme.

P. S. Wenn Mandelstam an Cézanne denkt, denkt er auch an Eiscreme. Im blendenden Malerei-Kapitel seines Prosawerks Die Reise nach Armenien, im Kapitel Die Franzosen:

Grüß Dich, Cézanne! Herrlicher Großvater! Großer, unermüdlicher Arbeiter. Beste Eichel der französischen Wälder.

Seine Malerei ist beim Dorfnotar auf dem Eichentisch beglaubigt worden. Er ist unerschütterlich wie ein Vermächtnis, das mit klarem Verstand und beharrlichem Erinnerungsvermögen aufgesetzt wurde.

Doch mich fesselte eine Nature-morte des Alten. Rosen, die zweifellos am selben Morgen geschnitten worden waren; prall gefüllte, dicht gerollte, besonders junge Teerosen. Ganz genau wie Kugeln von gelbem Sahne-Eis! [4]

Anmerkungen

  • [1] Der Stein, S. 135.
  • [2] Über den Gesprächspartner, Gesammelte Essays I, S. 235–238.
  • [3] Der Stein, S. 105, 109, 111, 187.
  • [4] Die Reise nach Armenien, S. 71 f.