Das süße Heu der Buchstaben

Ralph Dutli

Das süße Heu der Buchstaben
(oder: Bücher sind Ställe aus Stille)

In: Martin Grzimek (Hrsg.):
BÜCHER lesen / schreiben / machen / lieben.
Eine Hommage für Regine Wolf-Hauschild.
Stadtbücherei Heidelberg 2007, S. 35–37

Bücher sind sicher aus einem völlig anderen Stoff als wir. Bücher suchen uns, aber wir erkennen es mit unsern trüben Brillen meist nicht sofort. Wenn es keine Bücher gäbe, müsste man sie erfinden. Sie waren ja nicht immer da, mündlich ist aller Ursprung der Kultur. Aber sie standen uns vermutlich schon ewig im Weg, wollten erfunden werden, flogen uns sanft und energisch um die Ohren, quälten und hätschelten uns – schon vor der Zeit.

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Wer schon ein Buch gelesen hat, dem ist wahrlich noch zu helfen. Wer ohne Bücher leben will, ist ein Fakir, der auf das Atmen verzichten kann. Aber sag mal: Wie lange? Und wozu? Bücher sind die süßen Küchen. Bücher sind Mischungen aus Küchen und Kirchen. Ein Buch am Horizont ist der beste Himmel. Und ein heilsam Verwirrung stiftender Kompass.

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Als ich einmal für ein paar Monate in der Pfalz wohnte und an meinem Gedichtband Novalis im Weinberg schrieb, kam mir das ganze Rebenmeer der Pfalz wie eine verstreute Bibliothek mit vielen offenen Büchern vor. Den Falz bildeten die Bäche in den Tälern, die sanften Rebhügel – die sich bauschenden Seiten, die Reihen der Reben waren die Zeilen. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gelesen. Oder sie mich? Hat mich ihr Licht gelesen? Jedenfalls ließ ich mich gerne inspirieren von Novalis’ Aphorismus „Man könnte die Augen ein Lichtklavier nennen“.

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Und im Falz des Baches spiegelte sich tief unten die ganze Pfalz. In meinem Gedicht „Versinkende Oper“: „Ein offenes Buch mit schlafenden Zeilen / und der Falz den ich hinaufwandere / heißt Triefenbach Modenbach / und so weiter die Pfalz-Bibliothek / ausgewandert offene Bücher / aufgeschlagen von Hügel zu Hügel / im sprechenden Rebenmeer / entfesseltes luftiges Laboratorium“.

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Die „Pfalz-Bibliothek“ ist natürlich eine Anspielung auf die „Biblioteca Palatina“, also die „Pfälzische“, die in Heidelberg einst in der Heiliggeistkirche aufbewahrt wurde: die zarte, ziegenhäutige Bibliothek, zimtfarben wie ein afrikanischer Lehmboden. Sie wurde im Dreißigjährigen Krieg, nach dem Sturz des „Winterkönigs“ Friedrich V., von der Katholischen Liga im Jahr 1623 als Kriegsbeute nach Rom verfrachtet und der „Vaticana“ einverleibt. Päpste haben offenbar einen schamlos großen Büchermagen. Ich habe die „Palatina“ sozusagen in die Pfalz zurückentführt, oder aber dank eines poetischen Glücksfalls verstreut wiedergefunden in den Weinberghügeln. Wer findet, der sucht, das ist ein Prinzip jeder Poesie. Im Gedicht „Grüne Palatina“, 2003, kurz nach Ostern: „diese schamlose / urplötzliche Explosion / vor lauter Blättern / wirr geworden das / Pfalz-Buch ist nicht / mehr umzublättern / schwergewordene Seiten / grüne Palatina / die aus Rebenranken / hervorquillt / Millionen von Büchern / fallen aus dem Regal“.

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„Millionen von Büchern / fallen aus dem Regal“. Das ist natürlich der Albtraum einer Bibliothekarin, die aber hier und heute nicht erschreckt werden soll. Die Bücher bleiben im Regal. Sie sind ein großes Muttermal. Unserer Phantasie. Ohne sie sind wir noch ärmer als gewohnt. Geistesbettler. Geister ohne Körper. Erst die Bücher geben unserem Geist den Körper. Sie sind die Verkörperungen unserer Phantasien, bescheiden gebunden, mit uns verbunden, mit unserer Biographie verwoben, längst.

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In meinem Gedichtzyklus „Salz zu Salz“ gibt es eines mit dem Titel „Telegramm an Audhumla“. Letztere ist die Urkuh der nordischen Mythologie, als erstes Tier aus der gähnenden Leere Ginnungagab aufgetaucht, als aus dem Treffen von Eis und Feuer der tauende Urreif hervorging. Sie leckte Buri den Gebärer, der die Götter gebar, aus einem eisigen Salzblock hervor – am ersten Tag das Haar, am zweiten Tag den Kopf, am dritten Tag den Rumpf. In meinem Gedicht scheint die sanfte Urkuh auch noch das erste Buch aus dem Salzblock hervorzulecken. Erst eine Seite, dann noch eine, schließlich die letzte. Aber Bücher gab es ja lange-lange nicht, nur die mündliche Überlieferung, also eine Art homerisches Audio-Book oder ein Edda-MP3, das in den Mündern versteckt war. „Dein isländischer Stall Audhumla / ist ein Buch das am liebsten / in den Mündern wohnt / Bücher sind Ställe aus Stille / voller Salz und tierischer Wärme / und leckender Zungen“.

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Bibliotheken sind also die Ställe des Geistes, wo lesende Wiederkäuer am süßen Heu der Buchstaben sich laben. Bibliotheken sind selige Rummelplätze für verzückte Leser und zugleich die einzigen Tempel für fahrende Skeptiker, enthusiastische Agnostiker, bekennende Seiltänzer, werdende Poeten, musikalische Vegetarier, fromme heidnische Liebende, Mystiker der simpelsten unmöglichen Dinge, Desperados des geheimen Sinns. Die Bibliothek ist ein Kino, das froh seiner späteren Erfindung entgegensieht.

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Die Bibliothek ist, wer weiß, eine letzte wahre Freude? Weil es, auch wenn man sich noch so anstrengt, noch immer wenigstens ein Buch gibt, das man noch nicht gelesen hat. Das keiner bisher gelesen hat. Es ist das Buch, an dem ich gerade schreibe.

Zitate aus:

  • Ralph Dutli: Novalis im Weinberg. Gedichte. Ammann Verlag, Zürich 2005
  • Ralph Dutli: Nichts als Wunder – Essays über Poesie. Ammann Verlag, Zürich 2007
  • Salz – Das weiße Gold. Von Thomas Strässle. Mit Gedichten von Ralph Dutli. Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2007