Brodsky träumt Horaz

Ralph Dutli

Wunder genauen Lesens:
Letzte Essays des russischen Nobelpreisträgers

Januar 1997

Wozu erotische Träume doch gut sein können! Man kann diese lehr- und genußreiche Erfindung unseres Unterbewußtseins gar nicht genug loben. Einem erotischen Traum nämlich verdanken wir einen der schönsten Essays des am 28. Januar 1996 fünfundfünfzigjährig an einem Herzinfarkt gestorbenen Joseph Brodsky. Der große russische Lyriker und Literatur-Nobelpreisträger von 1987, der seit 1972 in Amerika lebte und in der Sprache seines Exils seine blitzgescheit-brillanten Essays schrieb, las gerade die Oden des Horaz, als er entschlummerte und den besagten Traum träumte, in welchem er in einem römischen Schlafzimmer (in der Farbe der Träume: „Terrakotta und Sepia“) mit einer ziemlich vage bleibenden Schönen ein ziemlich handfestes Liebesstündchen verbringt. Zwischen einem „Matratzenkliff“ und einem „seeschlangenähnlichen“ Heizkörper hat sich das abgespielt und wäre doch ein bißchen banal geblieben, hätte Mister Brodsky nach dem Träumchen nicht zur Feder gegriffen und einen „Brief an Horaz“ aufgesetzt, der – datiert auf 1995 – zu seinem letzten Essay-Virtuosenstück geworden ist. Wer immer mit den Klassikern Horaz, Ovid und Properz den Staub von Lateinstunden assoziiert, ist bei Kapitän Brodsky bestimmt auf dem falschen Dampfer. Er könnte aber dank dessen witzig-tiefgründigem Spiel mit der Sprache wie mit den Zeiten – einem Spiel gegen die Zeit und den Tod – auf den andern Dampfer umsteigen und ein gutes Stück weit genesen.

Keine Spur langweilig ist Brodskys Erkundungsfahrt ins Jenseits für den Leser. Nebenher erforscht der Autor nämlich das Wesen der Poesie (nicht nur der Horazens und Ovids) und schenkt uns erstaunliche Einsichten in das Wesen und Unwesen der Zeit und der Vergänglichkeit. In köstlich ironischen autobiographischen Einsprengseln läßt sich auch Brodskys bewegtes Leben erkennen: etwa seine Existenz „als ein von zu Hause an den Polarkreis gejagter junger Hund“. Nach einem hanebüchenen Prozeß wegen „Nichtstuerei“ und „Parasitentums“ (sprich: nonkonformen Gedichteschreibens) wurde Brodsky 1964 von einem biederen Sowjetgericht zu fünf Jahren Zwangsarbeit im russischen Norden verurteilt. Verblüffend, wie ironisch und distanziert er nach alledem sein eigenes Leben sehen kann. Nur schon davon sollte man sich eine Scheibe abschneiden.

So frech persönlich und offen hat noch keiner an Horaz geschrieben, so voller zärtlicher Komplimente auch („Bei Dir ist eigentlich jede Zeile ein Abenteuer“), und wenn Horaz im Jenseits noch zu lesen imstande ist, wird er sich seit kurzem mit glücklich roten Ohren sehr freuen über Brodskys Sendschreiben, das ihm so vieles verdankt und so vieles vergilt. In dieser zärtlich-frechen Liebeserklärung kehrt Brodsky kühn alle Zeiten um, überschreitet phantasievoll die trennenden zeitlichen Gräben: „Da ja alles, was ich geschrieben habe, genau genommen an Dich gerichtet ist: an Dich persönlich und alle übrigen. Denn wenn man Verse schreibt, findet man sein unmittelbarstes Publikum nicht bei seinen Zeitgenossen, schon gar nicht in der Nachwelt, sondern bei seinen Vorgängern. Bei denen, die einem Sprache und Formen gaben.“

Funkelndes aus der Unterwelt

Ein anderer Lieblingsdichter Brodskys, Wystan Hugh Auden, hat einmal geschrieben: „All the literati keep / An imaginary friend“ (Alle Literaten halten sich / einen imaginären Freund). Wie recht er hatte! Brodskys Essays sind pure Freundschaftsbeweise, von denen sich der Leser reich beschenkt fühlt. Der „Brief an Horaz“ eröffnet den neuen Essay-Band des Hanser Verlages, in dem die gewichtigen Brocken über Thomas Hardy, Rilke und Robert Frost das Zentrum bilden. Es sind drei Wunder des genauen Lesens, langsam-bedächtig von Gedichtzeile zu Gedichtzeile voranschreitend und doch immer glasklar schneidend mit dem luftigen Skalpell von Brodskys Essay-Stil. Zum Beispiel Rilke (im Essay „Neunzig Jahre später“), weil der uns sprachlich näher liegt als die andern. Doch wie nahe ist er uns eigentlich? Seit Jahrzehnten gehört es bei Kennern moderner Lyrik zum guten Ton, bei Erwähnung seines Namens gleich die Nase zu rümpfen. Wie gut tut es da, wenn ein aus der russischen Sprache und dem amerikanischen Exil kommender „Außenstehender“ (der in Wirklichkeit ein kapitaler lyrischer „Insider“ ist) uns deutschsprachigen Lesern eine saftige Lektion verpaßt. „’Orpheus. Eurydike. Hermes’ von Rainer Maria Rilke, geschrieben 1904, stellt einen vor die Frage, ob nicht das größte Werk dieses Jahrhunderts vor neunzig Jahren geschaffen wurde.“ Und wieder ist Brodsky selber ein Orpheus, irrt durch die U-Bahn-Schächte der Unterwelt, aus der er funkelnde Einsichten mitbringt. „Das Gedicht ist von der Art eines schweren Traums, in dem man etwas äußerst Wertvolles erringt, nur um es im nächsten Augenblick zu verlieren.“

Ein Schal für Sibirien

Von diesen erhabenen Verlusten, von Rilkes Orpheus und Eurydike kehrt Brodsky leicht und geistreich zu persönlichen zurück. Sein Essay „In Memoriam Stephen Spender“ ist ein Musterbeispiel seiner unnachahmlichen Nachrufe auf verstorbene Dichterkollegen. Auch hier die Mischung von Witz, Zärtlichkeit und Elegie. Und die federleicht-ironische Distanz zum eigenen Leben, die Brodsky so kostbar macht. Anrührende Details tauchen auf wie jener Collegeschal, den Stephen Spender dem verurteilten Brodsky 1965 nach Rußland schickte („... wir waren alle schrecklich besorgt, Sie könnten frieren. Deswegen der Schal“). Müßte ein Leser je nach Sibirien, wünschte man ihm als wärmenden Schal auch einen Band mit Brodskys Essays.

Brodsky ist ein mit allen Wassern gewaschener Meister der Verteidigung von Wert und Würde der Lyrik. Sie sei nicht nur „die höchste Form menschlicher Rede in jeder Kultur“, sie sei „unser anthropologisches, genetisches Ziel, unser sprach-evolutionärer Leitstern“. Schönes Paradox: kein anderer zeitgenössischer Dichter spricht mit solch heiligem Ernst von seinem – nur scheinbar unzeitgemäßen – Anliegen, von der beinah sakralen Dimension der Wortkunst, und keiner tut es witziger und unterhaltsamer. Der letzte Essay, „Ein unbescheidener Vorschlag“, ist eine Ansprache, die Brodsky 1991 in Washington, in der Library of Congress, gehalten hatte, als er zum U.S. Poet Laureate gekürt wurde. Er plädiert dafür, Lyrik der gesamten amerikanischen Bevölkerung zugänglich zu machen, sie in Riesenauflagen und zu bescheidensten Preisen unter die Leute zu bringen. Sie müßte einem an die Haustür gebracht werden „wie Strom oder wie die Milch in England“, in Drugstores zu kaufen sein („weil sie Ihre Psychotherapeutenrechnungen drücken könnte“), in jedem Motelzimmer zu finden sein („gleich neben der Bibel, die bestimmt nichts gegen diese Nachbarschaft hätte, da sie auch die Nachbarschaft des Telephonbuchs hinnimmt“). Und warum das alles? Weil die amerikanische Lyrik schlicht das Beste sei, was Amerika hervorgebracht habe. „Sie ist außerordentlich kräftigendes Zeug.“

So endet diese Handvoll brillanter Essays mit einem kühlen, sprich: glühenden Plädoyer für die Poesie. Und ein Ärgernis löst sich in Nichts auf. Der 1995 noch von Brodsky selber zusammengestellte und in New York erschienene Originalband der Essays („On Grief and Reason“) ist doppelt so dick wie das vorliegende deutsche Buch, und fast hätte man auf den Hanser Verlag wütend werden können, weil der deutsche Leser scheinbar nur mit der Hälfte abgespeist werden sollte. So vieles wird derzeit von den Verlagen zur Schonung des Lesers unternommen, und gewisse Verlage sind reine Verschonungsanstalten geworden. Doch da kommt für den mit Brodskys Witz und Tiefe bitte nicht verschont werden wollenden Leser die frohe Botschaft vom Verlag, daß hier nur die strikt auf Literarisches bezogenen Essays versammelt seien und daß einem nächstes Jahr eine zweite Hälfte mit weiteren Schals beschert werden soll, mit Reiseskizzen, Erinnerungen an die frühen Jahre, Kindheit und Jugend in Rußland usw. So macht also die auf den ersten Blick skandalöse Halbierung doch Sinn. Wer immer sich mit Brodskys Tod nur schwer abfinden kann, darf sich damit trösten, daß er nächstes Jahr – als flattere es aus dem Jenseits der Dichter her, wo Brodsky wahrscheinlich gerade jetzt mit Horaz, Auden und Frost spazierengeht – noch ein Buch bekommen wird. Bis nächstes Jahr also, Mister Brodsky.

Joseph Brodsky: Von Schmerz und Vernunft.
Hardy, Rilke, Frost und andere.
Aus dem Amerikanischen von Sylvia List.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1996, 281 S.

Ralph Dutli, 1997